Macht laufen vergesslich? Steigt durch exzessives Laufen das Risiko an Alzheimer zu erkranken? Ich glaube ja, und ich bin der lebende Beweis dafür.
Die Qualen des ersten Marathons im vergangen Jahr sind längst vergessen, so werden recht überheblich neue Ziele gesteckt. In 3:45 sollte der nächste Marathon bewältigt werden, und das in Berlin. Alle sagen, Berlin ist super, Berlin hat eine schnelle Strecke, da trägt Dich die Begeisterung der Zuschauer förmlich ins Ziel, so hieß es.
-Alles Lüge! Man muß selber laufen.-
Bereits während meiner Vorbereitung zeigte sich, dass das Unternehmen doch nicht so ganz einfach werden wird. An den lagen Einheiten hatte ich ziemlich zu knacken. Und ein Marathon beginnt halt erst ab km30. Zu diesem Zeitpunkt war ich im Training mit meinen geschunden Knochen eigentlich schon immer komplett am Ende. Kleinlaut korrigierte ich meine Ziele. Aber zumindest schneller als im letzten Jahr sollte es werden, und sub 4h ja sowieso. Beim letzten Lauf vor Berlin konnte ich am Tegernsee dann auch noch etwas Selbstvertrauen tanken und fuhr mit einem guten Gefühl nach Berlin. Vielleicht ist ja doch mehr drin…
Berlin ist ja auch ohne Marathon eine Reise wert, so bin ich mit Gattin, bereits am Freitag angereist, damit ich auch ein bisschen was von Berlin habe.
Der Marathon wird die Verkehrssituation übers Wochenende nicht verbessern...
Am Samstagnachmittag starteten im Tiergarten die Skater auf die Marathonstrecke. Bei der Gelegenheit begutachte ich den Startbereich auf der Straße des 17. Juni, und war von den Dimensionen sehr beeindruckt. Von der Startline aus ging ich Richtung Brandenburger Tor, die Startblöcke A, B, C, D sind noch relativ klein. Der Bereich E und F wird dann schon größer. Mein Startblock G, scheint überhaupt kein Ende nehmen zu wollen. Und danach kommt nur noch der Startblock H mit den Powerwalkern am Ende. Erschreckend, wenn einem so die eigene Leistungsklasse aufgezeigt wird.
–Du bist einer von Zehntausenden, und Du stehst ganz hinten-
Ruhe vor dem Sturm...
Samstag früh gings zeitig mit dem Fahrrad zum Tiergarten, da ich bei 41.000 Startern mit einem mittelgroßen Chaos bei der Anreise, bzw. bei der Kleiderbeutel Abgabe gerechnet habe. Aber das war alles perfekt organisiert. Wirklich, da muss ich dem Veranstalter ein großes Lob aussprechen. Die Organisation war perfekt.
Ich laufe mich ein bisschen ein, damit mein Fahrwerk auf Temperatur kommt und sortiere mich dann im Startblock G ein.
Um 9:00 Uhr werden die Profis gestartet. Zehn Minuten später ist der Startblock F und G dran. Währen der Startblock langsam an die Ziellinie vorrückt, verschwinde ich nochmal kurz aufs Dixi – die Nervosität-
Als ich wieder an die frische Luft trete, ist der Startblock fast komplett an mir vorbei gezogen. Ich laufe an der Seite nach vorne um nicht ganz von hinten starten zu müssen. Ich denke der Dixi Ausflug war einer meiner ersten Fehler, den ich am Sonntag gemacht habe, aber da sollte ich ja nicht der einzige gewesen sein.
Um 9:14 starte ich offiziell ins Rennen. Auf den ersten Kilometern bin ich total beeindruckt von der Atmosphäre die an der Strecke herrscht und mir fällt gar nicht auf, daß ich gar nicht recht vom Fleck komme.
Die Werte die mein Garmin für die ersten Kilometer anzeigt sind im Grunde nicht schlecht, aber die Realität sieht anders aus, nur das bemerkte ich erst in der Nachbetrachtung.
Es ist extrem voll, im Zickzack geht’s durch die Meute. Von der blauen Ideal-Linie, die sich durch ganz Berlin schlängelt, bin ich Meilen entfernt. So wundert es nicht, dass mein Garmin die Kilometer immer früher abpiepst. Am Ende waren es 800 Meter, die ich mehr auf der Uhr hatte, und die hatte ich alle auf der ersten Hälfte des Marathons gesammelt.
Masse Läuft
Ein stückweit laufe ich sogar auf dem Gehweg, weil auf der Straße kein Durchkommen ist. Plötzlich fällt mir ein älterer Italiener wie ein Käfer vor die Füße, er ist an den unebenen Gehwegplatten, die so typisch für Berlin sind, hängen geblieben. Ich fasse Ihn unter die Schultern und helfe ihm wieder auf, frage ob alles in Ordnung ist. „Io sto bene, grazie“. Ich sortiere mich wieder auf der Straße ein, nicht dass ich der nächste bin, der auf der Nase liegt.
Die erste Verpflegungsstelle kommt, ich bin erstaunt wie viele schon nach 6 km zum Catering gehen. Der Lindwurm kommt ins Stocken und die Sekunden verrinnen. Es geht durch ein Meer an Plastikbechern, das hört sich an, als laufe man durch Cornflakes.
Die nächste Engstelle kommt in der Friedrichstraße, hier wird die Strecke etwas enger, was zur Folge hat, dass sich das Läuferfeld erneut staut. Ein Rollstuhlfahrer, der auf dem Abschnitt entgegen kommt, macht die Situation nicht gerade besser.
Im Schmerzzentrum geht zu dem Zeitpunkt die erste Warnleute an. Die linke Achillessehne meldet ein Problem. Seit letztem Dienstag macht diese sich gelegentlich mit leichtem Druck bemerkbar. Aus dem Grund habe ich auch in der Woche vor dem Marathon die Beine etwas ruhiger gehalten und bin am Freitag und Samstag überhaupt nicht mehr gelaufen. Schließlich ist ja Tapering angesagt. Ich will mal hoffen, dass das jetzt nicht schlimmer wird. Schließlich werde ich ja später dann noch genug mit Lolek und Bolek, also dem linken Oberschenkel und dem Knie zu tun haben.
Die Durchgangsmatte bei km 10 überlaufe ich mit einer 55:41, dass ich zu langsam bin, realisiere ich auch jetzt noch nicht, schließlich sind die Splitts, die mein Garmin anzeigt ja noch ganz in Ordnung.
Am Straußberger Platz bei km 12, nehme ich mir die Zeit und laufe bei der Umrundung des Rondells gaaaaanz außen, um mir die nötige Anerkennung und Anfeuerung von Freunden abzuholen die hier stehen wollten. Taten sie aber nicht. Später erfahre ich, dass meine EX-Freunde zu dem Zeitpunkt noch in den Betten lagen. Ist am Samstagabend dann doch später geworden.
Die Spitze hat mich längst abgehängt...
Bei Kilometer 14 nehme ich mein erstes Gel, um dann bei der nächsten Wasserstelle mit Wasser etwas nach zu spülen. Bisher habe ich versucht die Verpflegungsstellen bei km 5, 9 und 12 weiträumig zu umlaufen, diesmal muss ich aber in den Nahkampf an die Theke, und ich bezahle mit weiteren wertvollen Sekunden.
Ich ergattere einen Becher Wasser und schnorchle diesen mit dem eigens dafür mitgeführten Trinkhalm.
Meine Splits werden besser, langsam nähere ich mich dem Bereich in dem ich eigentlich laufen sollte. Ich genieße die Atmosphäre die rundherum an der Strecke herrscht, es gibt kaum ein Abschnitt an dem Niemand steht und die Läufer anfeuert. Die Musikgruppen an der Strecke sind der Hammer, rund 90 soll es davon geben. Bei manchen würde man am liebsten stehen bleiben und zuhören. Am besten hat mir eine Trommler Gruppe gefallen, die in einer langen Unterführung standen und im Stile von „we will rock you“ getrommelt haben während alle Läufer dazu im Takt aus vollem Halse „YEAH“ riefen und gleichzeitig beide Hände in die Höhe rissen.
-Genial-
Aber die Freude währt nicht lange, bei km 18 geht der nächste Alarm in der Schmerzzentrale ein. Die Achillessehne macht jetzt ernst und wechselt Ihren Status von Orange auf Rot, das ganze wird mit einem heftigen ziehen unterstrichen. Wenig später bekomme ich bei km 20 die Quittung, ich kann das Tempo nicht mehr halten und werde wieder langsamer.
Mit einer Zwischenzeit von 1:57:08 zum Halbmarathon kapiert auch der blödeste, dass das mit einer geplanten 3:50 nix mehr werden kann. Bei mir dauert es etwas länger bis ich mit meinen blutleeren Synapsen das soeben erlaufene Ergebnis verdopple. Bei km 23 ist es amtlich, das Rechenzentrum hat die Hochrechnung bestätigt; das wird nix. Wo habe ich nur die Zeit liegen lassen?
Für eine Analyse bleibt keine Zeit, denn in der Schmerzmeldezentrale geht ein weiterer Notruf ein. Der linke Oberschenkel vermeldet einen Kabelbrand. In der Zentrale bricht Hektik aus. Man versucht den Oberschenkel zu stabilisieren, das geht aber auf Kosten der Pace. Die Adrenalinausschüttung wird hoch gefahren um den Schmerz zu löschen. Der Laufstil wird aber zunehmend unrunder.
Wenig später macht der Druckanstieg im linken Knies das Chaos in der Zentrale komplett.
Ein Notfallplan wird kurzerhand aus der Schublade gezogen. Linderung durch Schmerzverlagerung, heißt der Plan. Zur Ablenkung werden willige Passanten und Kinderhände abgeklatscht bis die Handflächen brennen.
Das lenkt zwar ab, aber meine Linke Seite steht weiterhin in hellen Flammen. Bei der Timekillerproduktion, ist offenbar für die linke Seite, ausschließlich minderwertiger Schrott verbaut worden.
Bei km 27 werden Gel-Tütchen gereicht. Auf dem folgendem Kilometer bis zum „wilden Eber“ bekommt man daraufhin kaum seine Beine vom Boden. Alles klebt.
Die Stimmung am „wilden Eber“, einer der Höhepunkte der Strecke, kann ich gar nicht mehr so richtig aufnehmen. Ich befinde mich längst in einem Tunnel aus Schmerz und Adrenalin, die äußeren Eindrücke dringen nur noch durch einen Nebel zu mir durch. Durchhalteparolen werden wie ein Mantra immer und immer wieder wiederholt. Zum Glück habe ich meine Frau bei km 36 positioniert. Zumindest bis dahin möchte ich durchhalten. Wehe, die liegt auch noch im Bett, Sie war ja am Vorabend auch mit den Freunden vom Straußberger Platz unterwegs.
Bei Kilometer 32 reißt mich eine Textbotschaft auf einer Videoleinwand aus meiner Lethargie.
Als ich über eine Zeitmatte gehe, erscheint auf einer großen Videoleinwand gegenüber die Botschaft:
„Timekiller, Zeit für den Zielsprint“
Ja, wie geil ist das denn. Ich spüre förmlich wie neue Energie durch mich strömt. Ich werde heute keine Bestzeit mehr abliefern, aber jetzt möchte ich zumindest finishen. Die nächsten Kilometer verbringe ich damit zu überlegen wer mir diese Botschaft geschickt haben könnte. Dann zähle ich nur noch die Kilometer bis zu km 36 runter.
Bei km 35 (und 25) nehme ich ein weiteres Gel aus meinem Gürtel, danach geht es jeweils in die Schlacht an der Getränketheke. Ein Wasserloch verpasse ich, weil ich das Gewühl am Anfang umgehen wollte, und dann ist die Theke auch schon vorbei. Und jetzt? Etwa zurück gehen?
-NIEMALS-
War Erich Honecker eigentlich Marathon-Läufer? War von Ihm nicht das Zitat „Vorwärts immer, rückwärts nimmer!“
Am Ku-Dam angekommen ist das Läuferfeld endlich soweit auseinandergefallen, dass man ohne Schlangenlinien Laufen könnte. Aber an Überholen ist in meinem Zustand nicht mehr zu denken. Ich muss schauen, dass ich nicht selbst zum Verkehrshindernis werde.
Kurz hinter 36 Kilometer entdecke ich meine Frau und hole mir meine verdiente Streicheleinheit ab, soviel Zeit muss sein.
Hol mich hier raus...
Jetzt sind es „nur“ noch sechs Kilometer, versuche ich mich zu motivieren.
Auch die Zuschauer an der Strecke versuchen zu Motivieren. Sie halten dazu selbst gebastelte Transparente in die Höhe.
„Quäl Dich, Rainer“
„Katrin, keiner hat gesagt es wird leicht“
„Papa, Du wolltest es so“
„Lauf die Sau“
Mein Absoluter Favorit aber ist:
„heul doch“
Ja, innerlich weine ich längst… Alle haben mir für den Marathon viel Spaß gewünscht. Nein, ich bin ehrlich, Spaß macht das momentan nicht. Vielleicht bis km 15, aber jetzt? Spaß? Dass ich nicht lache. Was für eine bescheuerte Idee, 42 Kilometer durch eine Stadt zu rennen. Gestern, die Skater, ja, das sah nach Spaß aus, aber das hier… Ich will jetzt auch Rollen haben.
So geht Spaß...
Am Gendarmenmarkt bei Kilometer 40 keimt Hoffnung auf, den Rest nun doch auch noch zu schaffen. Hinter jeder Wegbiegung vermute ich nun das Brandenburger Tor zu sehen, aber es dauert noch verdammt lange bis ich endlich auf die Zielgerade einbiegen darf.
Ein Moderator ruft „nur noch ein Kilometer bis ins Ziel“, ich schiele auf die Uhr: 3:55
-Arghh, das wird eine total enge Kiste-
Ich mobilisiere die letzten Kräfte, pfeife auf die Schmerzen und gebe das letzte was der geschundene Körper noch zu leisten vermag. Ich renne durch das Brandenburger Tor, eigentlich wollte ich diesen Abschnitt genießen, aber dazu habe ich jetzt keine Zeit. Ich habe einen Marathon zu finishen und zwar SUB 4h.
Die Erlösung ist nah...
Nach dem Tor habe ich freie Sicht auf das Ziel.
–Oh Gott, ist das noch weit-.
300 endlose lange Meter. Ich gebe alles. In der Schmerzzentrale ist alles wild am Blinken und Piepsen, Funken sprühen aus den Armaturen …
Mit 3:59:12 gehe ich über die Ziellinie und ich bin…
…froh, dass es rum ist. Das mache ich nie wieder schießt es mir durch den Kopf.
Nach der Ziellinie möchte ich mich eigentlich sofort hinlegen. Aber es ist kein Platz. Über Lautsprecher werden die Finisher aufgefordert langsam weiter zu gehen. –Ich will jetzt nicht mehr gehen, ich bin 42 km gelaufen, jetzt ist Schluss-. Ich spiele mit dem Gedanke einfach zu kollabieren, dann würde ich davongetragen werden und würde eine erstklassige Zielverpflegung bekommen, vieleicht sogar intravenös. Eine leckere Ringer Lactat…
Stattdessen legt man mir eine Plane um, und hängt mir meine Finisher Medaille um.
Was zu trinken wäre jetzt ganz schön! Aber es sollte noch etwas dauern bis ich zur Zielverpflegung weiter geschleust worden bin. In der Verzweiflung reiße ich das letzte Gel vom Gürtel und schlürfe dieses aus. Das gibt mir die nötige Kraft um beim Erdinger Stand zwei Weißbier zu ergattern und mit einer Tüte Zielverpflegung auf der Wiese vor dem Reichstag ein freies Plätzchen zu suchen.
Die Tüte mit der Zielverpflegung ist etwas mager. Eine Banane, ein Apfel, ein Milchbrötchen, Kekse und ein Tetrapack Wasser. Nix Salziges. Und dafür bin ich jetzt so weit gelaufen? Während ich die Banane mampfe, fällt mein Blick auf meine Waden. Diese scheinen ein Eigenleben zu entwickeln. Irgendwas arbeitet da unter der Haut. Ich spüre nix, aber es sieht aus, als ob ein Frettchen unter einer Decke mit einem Ball spielt. Eigentlich müsste jetzt gleich der Krampf kommen…
Um 14:30 bin ich mit meiner Frau in einem Cafe am Rande des Tierparks verabredet. Ich komme natürlich zu spät. Ich bestelle ein Bier und einen Zwiebelkuchen. Wenig später kommt eine Familie angerauscht und annektiert die Plätze hinter uns. Die Frau ist extrem betriebsam und beginnt das Mobiliar des Cafes neu zu ordnen . Da es etwas eng ist bittet sie mich mit dem Stuhl zu rutschen, damit Ihr Mann die Beine hochlegen kann. „Wissen Sie, mein Mann ist gerad ein Marathon gelaufen und wir haben heute noch viel vor“
-Ne, echt?- entfährt es mir, und ich denke:
So eine arme Sau…